„Es gibt ein tiefes Gefühl, dass Kiew ein Teil Russlands ist“

Der Ethiker Christoph Stückelberger lehrt seit vielen Jahren in Russland und China. Im Interview spricht er über die revisionistischen Visionen Russlands und den westlichen Triumphalismus. Beides kann angesichts der Invasion in die Ukraine nicht gelingen, so der Gründer mehrerer Ethik-Stiftungen.

Wo liegt aus Ihrer Sicht das Problem Russlands mit der Ukraine? Was versteht „der Westen“ hier nicht?

Christoph Stückelberger: Zuallererst ist wichtig: es gibt keine Rechtfertigung für diesen Angriffskrieg. Wenn ich trotz allem meinen Kontakt zu Menschen in Russland oder China nicht abreißen lasse, dann darum, weil ich zu Menschen in diesen Großmächten einen Dialog aufrechterhalten will. Solange man miteinander spricht, schiesst man nicht aufeinander. Gegenseitiges Verstehen ist ein ethisches Grundprinzip. Es geht darum, einen Moment in den Schuhen des Anderen zu laufen.

In diesem Fall ist das natürlich sehr schwierig. Eins ist mir durch meine Lehrtätigkeit in Moskau jedoch immer wieder deutlich geworden: die Geschichte spielt in Russland eine sehr große Rolle. Nicht als Kriegsverherrlichung, aber immer wieder als Erinnerung an vergangene Konflikte und auch Opfer. So ist der Sieg über Hitler dem Staat noch heute sehr wichtig, man versteht dies als wichtigen Beitrag Russlands zur neuen Nachkriegs-Weltordnung.

Was Putins Härte anbelangt, so beruht diese auf der tiefen Überzeugung, eine geradezu messianische Rolle für Russland erfüllen zu müssen. Leider führt dieser Messianismus mit der Ideologie der „Russischen Welt“ oft zu Blindheit. Blindheit und Verrücktheit sind aber nicht dasselbe.

Putin nimmt in seiner Rhetorik nicht Bezug auf die vergangene Sowjetunion, sondern er greift noch weiter zurück auf das zaristische Russland, auch auf die Einheit von Staat und Kirche. Ihn motiviert die nationale Vorstellung, dass Russland einen wichtigen Platz in der Welt hat, den es zu bewahren und wieder herzustellen gilt und dass die „russische Welt“ eine Einheit sei. Orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern, unter Initiative der griechisch-orthodoxen Volos Akademie haben in einer Erklärung vom 10. März diese Lehre der „Russischen Welt“ klar verurteilt als „ethno-phyletist“ (die Einheit einer Kirche mit einer Nation und Ethnie).

Wir unterschätzen oft, dass in seinen Augen auch Kiew zu einem Ursprungsort dieses Russlands gehört. Das ist fast eine mythische Überhöhung eines Grundmotivs, das auch andere Länder kennen. Wie Berlin immer in der Seele der Deutschen die Hauptstadt war, es aber lange nicht sein konnte. Es gibt ein tiefes Gefühl, dass Kiew ein Teil Russlands ist. Für die russisch-orthodoxe Kirche und viele Russen ist Kiew, vor 1000 Jahren, Ursprungsort des orthodoxen Christentums in Osteuropa. Die St. Sophia Kathedrale in Kiew ist für sie fast vergleichbar mit dem Tempelberg in Jerusalem, ein zentraler, heiliger Ort für die Juden. Ironie der Geschichte: nun sind es gerade russische Truppen, die diese Kirche zu beschädigen drohen!

Das Problem: Revisionismus ist nie zukunftsorientiert. Das hat sich in der Gegen-Reformation gezeigt, nach der französischen Revolution wie auch bei den früheren Kolonialmächten. Bei großen Veränderungen versuchen revisionistische Kräfte, die alte Ordnung wieder herzustellen. Das kann nicht gelingen.

Dazu kommt aber noch ein anderer Umstand. Das bisherige pragmatische Arrangement zwischen Russland und Ukraine hat sich verschoben. Die Ukraine hat sich gegen Westen orientiert, die Verlustangst Russlands wächst. Man will die Ukraine nicht einfach so in den Westen entlassen.

Leider haben manche Regierungen und Bevölkerungen wenig Sensibilitäten für Osteuropa. Der westliche Triumphalismus der USA nach 1989 war sehr schädlich, auch wenn dies in Europa gemässigter war. Diese Überheblichkeit, die ich auch jetzt wieder spüre, ist ein Grund für das tiefsitzende Misstrauen von Russen gegenüber dem Westen. Ein „Ihr müsst in die Knie“ ist keine gute officiVoraussetzung für eine Deeskalation. Auch die mediale Rhetorik von „wir sind frei“ und „die sind diktatorisch“ ist nicht hilfreich.

Freunde in Moskau sagen: Wir sind klar gegen den Krieg, aber wir betonen, dass der Westen seit 1989 wiederholt Versprechen gebrochen hat. Die neutrale Zwischenzone zwischen NATO und Russland gibt es nicht.

Welche sind eigentlich „westliche“ Werte? Sind es westliche oder globale Werte? Inwiefern unterscheiden sie sich von «russischen» Werten?

Christoph Stückelberger: Der Begriff der „westlichen Werte“ kommt jetzt wieder auf, da wir uns bedroht fühlen und zusammenrücken. Ganz klar muss man jedoch feststellen: vor dem Ukraine-Angriff gab es tiefe Gräben in „den“ westlichen Werten zwischen Mehrheiten und Minderheiten, bei Fragen der Nachhaltigkeit, Umweltrechten und anderem mehr.

Ein Hauptpunkt der „russischen“ Werte ist die Sorge um die Einheit. Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber einem liberalen Pluralismus. Die Einheit von Kultur, Religion, Staat, das ist ganz tief in Russland verankert. Die Sorge um die Einheit ist auch ganz tief verankert in China

Der Pluralismus führt zu Konflikten, da ist sich Putin sicher. Die westliche Demokratie wird deshalb mit Skepsis betrachtet. Die Einheit ist dort brüchig, weil das Sagen hat, wer Wahlen gewinnt. Was im Moment in den USA passiert, ist Wasser auf die russischen Mühlen: Demokratie ist polarisiert, man bekämpft sich gegenseitig, ein Bürgerkrieg in den USA droht. Das ist doch kein Vorbild, sagt Russland. Hier hätte Europa eine wichtige Funktion: die Schweizer Konkordanz-Demokratie, in der die Mehrheit und die Minderheit in einer Regierung vertreten sind, ist stabil.

Pluralität heisst, die Würde und den Respekt vor der Andersartigkeit des Anderen zu betonen. Nun habe ich in den letzten zwanzig Jahren mehr Verständnis dafür gewonnen, dass dieses Modell nicht in allen Ländern funktioniert. Es gibt schon gute Gründe zu sagen, dass die Einheit des Volkes nicht nur über eine pluralistische Demokratie zu haben ist. China besteht aus 55 offiziell anerkannten ethnischen Gruppen, da betrachtet sich die Regierung als Hüter einer schwierig zu haltenden Einheit. Das Bestreben nach Einheit und die Respektierung von Minderheiten ist ein sehr anspruchsvoller Balanceakt.

Wenn man überhaupt so etwas wie gemeinsame globale Werte festhalten kann, dann bieten sich die UN-Nachhaltigkeitsziele an. Nachhaltigkeit, Gleichwertigkeit von Nationen und Menschen, Frieden, Freiheit im Dienst der Gemeinschaft, Souveränität gekoppelt mit Solidarität: Auch in Russland können diese Werte andocken.

Welche Sanktionen sind in der aktuellen Lage nötig, welche schädlich und nicht wirksam?

Christoph Stückelberger: Wir sind derzeit auf einem Level angelangt, wo es nur Verlierer gibt. Innert 10 Tagen wurde Russland zum weltweit meist sanktionierten Land, mit 5530 Sanktionen (Castellum.ai Datenbank). Putin ist unter großem Druck, aber das reicht nicht, ihn in die Knie zu zwingen. Es gibt Sanktionen mit wirtschaftlichen Kosten, die wir bereit sein müssen, zu zahlen. Vorübergehende harte Sanktionen können ein Mittel sein, aber wo die Bevölkerung leidet – auch im Westen mit Energiepreisexplosion und wohl erhöhter Arbeitslosigkeit – und der Konflikt unerträglich eskaliert und zum Beispiel akademische Verbindungen zu russischen Universitäten abgebrochen werden sollen, wird die Isolation gefördert. Das treibt auch diejenigen in die Arme Putins, die bislang noch im Dialog mit dem Westen standen.

Russland jetzt in die Knie zu zwingen, kann nicht gut gehen. Wir müssen Russland als Teil der Weltordnung erhalten, so schwierig uns das fällt. Im Moment gibt es eine Doppelmoral. Wenn Russland in der Ukraine einmarschiert, schreit die Welt auf. Als die USA in Afghanistan einmarschierten, Diktatoren im Kongo, Südamerika und anderswo durch die CIA an die Macht kamen – wurde es als Sieg der freien Welt gesehen. 2005 bezeichnete sogar das deutsche Bundesverwaltungsgericht den Krieg der USA im Irak als völkerrechtswidrig. Wer hatte da Sanktionen gegen die USA erlassen?  Niemand. Dahinter steckten sehr aggressive Machtansprüche einer Weltmacht. Nochmals: Der Einmarsch Russlands in der Ukraine ist nicht zu rechtfertigen. Sanktionen müssten dann aus ethischer Sicht aber auch gegenüber anderen Aggressoren angewendet werden.

Welche Lösungsansätze zur Deeskalation gibt es aus ethischer Sicht?

Christoph Stückelberger: Die Kommunikationskanäle müssen offengehalten werden, das ist das allerwichtigste. Das beinhaltet Russland und die Russen. Wo Journalisten rausgeworfen und Medien gestoppt werden, ist das natürlich sehr schwierig.

Auf politischer Ebene müssen Möglichkeiten für Konzessionen gesucht werden. Ein einfaches westliches Orientieren der Ukraine bringt keine Lösung. Souveränität ist kein isolierter Wert, sondern muss in Beziehung mit anderen Werten gesetzt werden. Souveränität muss mit Frieden und Weltgemeinschaft verknüpft sein. Sie muss gegen andere Werte abgewogen werden. Es ist richtig, die Ukraine nicht in die NATO oder die EU aufzunehmen. Eine neutrale Ukraine wäre momentan der bessere Weg zum Frieden und würde eine wirtschaftliche Westorientierung nicht ausschliessen.

Eine weitere Frage ist die Krim. Möglicherweise ist es im Dienste einer Zusammenarbeit besser, mit Grollen zu akzeptieren, dass die Krim russisch bleibt. Letztendlich geht es um die Frage, was der größere Schaden ist. Ein Frieden braucht substanzielle Zugeständnisse auf beiden Seiten. Russland muss sich dann natürlich sofort aus der Ukraine zurückziehen.

Welche Rolle können die Religionen spielen, welche die UNO?

Christoph Stückelberger: Kirchen müssen eine vom Staat unabhängige Rolle spielen. Der Vermittlungsdienst der Kirchen kann nur glaubwürdig sein, wenn sie nicht einfach unkritisch die staatlichen Positionen übernehmen. Das ist im Moment das Problem der russisch-orthodoxen Kirche. Da ist eben wieder der Einheitsgedanke schwierig. Eine Partnerschaft zwischen Staat und Kirche bedeutet Zusammenarbeit und gleichzeitig kritische Distanz. Das ist aber bei der Verankerung in der russischen Seele in der russisch-orthodoxen Kirche schwierig. Trotzdem müssen wir das einfordern, was z.B. der Ökumenische Rat der Kirchen mit seinem kritischen Brief an Patriarch Kirill kürzlich getan hat, worin der ÖRK die Rechtfertigung der Invasion durch Patriarch Kirill klar ablehnt. In seiner Antwort an den ÖRK erinnert Patriarch Kirill zu Recht an die Sicherheitsbedürfnisse Russlands, distanziert sich aber nicht von der Invasion.

Auf politischer Ebene müsste der Sicherheitsrat mit dem derzeitigen System des Vetorechts überholt werden. Wenn eines der Vetomächte zum Aggressor wird, müsste das Vetorecht für diesen Staat ausgesetzt werden können. Der Sicherheitsrat müsste jetzt ohne Russland entscheiden können. Sonst bleibt er blockiert. Der Vatikan und der ÖRK könnten einen solchen Vorschlag in die UNO einbringen. Auch der ÖRK müsste dann eine solche Stellungnahme allenfalls ohne Zustimmung der Ortskirchen, hier in Russland, vornehmen können, was in den geltenden Regeln fast ebenso schwierig ist wie die Blockierung im UN-Sicherheitsrat.

Ein Blick in die Zukunft: Betrachtet man den Konflikt im größeren Zusammenhang mit der Verbindung Russland-China und der „neuen Ära“, von der China spricht: Ist dies eine weltpolitische Zäsur?

Christoph Stückelberger: Ich bin skeptisch gegenüber dem Begriff der „Zeitenwende“. Er hat für die konkrete deutsche Politik Berechtigung, so wie es Kanzler Scholz für die deutsche Russlandpolitik meinte. Als genereller Begriff könnte es ein Signal zurück in den Kalten Krieg sein, zu einer großen Polarisierung mit Rüstungswettlauf. Das würde das Geld natürlich aus den Nachhaltigkeitszielen umlenken in die Rüstung. Diese Polarisierung darf nicht weiter zunehmen.

China will sich als Vermittler positionieren, es schlägt sich nicht einfach auf die russische Seite. Zwischen beiden Ländern gibt es große Differenzen. Die Zusammenarbeit ist aus chinesischer Sicht eine Zweckgemeinschaft, da China russische Rohstoffe braucht.

Die politischen Ziele beider Länder sind weit voneinander entfernt. Russland ist revisionistisch und China spricht von Sozialismus mit chinesischer Prägung. Die chinesischen Werte sind dort mindestens genauso wichtig wie die sozialistischen. Wenn Russland und China sich zusammenschließen, dann vor allem als geopolitisches Bündnis gegen die USA

Was heisst das ethisch? Wenn wir eine Machtbalance in der Welt etablieren wollen, müssen wir die berechtigten Rollen und Interessen Russlands und Chinas ernst nehmen. Eine stabile Weltordnung in dynamischer Balance wird es nur geben mit dem Respekt für und die Einbindung von China, Russland, dem Nahen Osten, der Türkei, aber auch von Europa, den USA, Afrikas, des Nahen Ostens und Südamerikas.

Es ist ethisch nicht zu rechtfertigen, dass Macht vor Recht gilt. Aus ethischer Sicht muss das Recht Machtansprüche begrenzen. Das kann zusammen funktionieren. Auch die EU braucht starke gemeinsame Werte, um nicht auseinanderzufallen. Jede Gemeinschaft braucht gemeinsame Werte, das gilt für die weltweite Balance genauso. Der Einheitsgedanke und der Multilateralismus schließen sich nicht aus. Der Einheitsgedanke richtet sich nach innen, der Multilateralismus ermöglicht die Kooperation nach aussen.

Globalisierung ist nicht Egalisierung. Dieses westliche Weltbild aus den Neunzigern musste scheitern. Globalisierung heisst auch die Anerkennung, dass einzelne Länder weniger Pluralismus haben können. Wir müssen Russland ermutigen, zur Einheit zu stehen, dies aber in einer fairen Weise im Umgang mit Minderheiten und ohne imperiale und revisionistische Träume.

Das Interview führte der Journalist Thomas Flügge. Hinweis: Christoph Stückelberger: Globalance. Ethics Handbook for a World Post-Covid, Geneva, Globethics.net, 2020, free download.

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